Bevor ich die Wahrheit erkannte, betrachtete ich Berge als Berge und Flüsse als Flüsse.

Als ich anfing, die Wahrheit zu studieren, erkannte ich, dass Berge nicht Berge und Flüsse nicht Flüsse sind.

Aber nachdem ich die Wahrheit vollständig verstanden hatte, betrachte ich Berge wieder als Berge und Flüsse wieder als Flüsse.

Ch’an-Meister Qingyuan Weixin

In der wirklichen Wirklichkeit anzukommen ist schwieriger, als ich immer dachte. Offensichtlich – und vielleicht nicht nur scheinbar – braucht es dazu entweder die Erkenntnis der Antworten auf die mystischen Fragen des Ch’an; oder die auf die fundamentalen Fragen der Quantenphysik; die Konfrontation mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung; oder der Erkenntnis, dass der geliebte Vater ein Mörder ist. Das sind die vier Themenbereiche, mit denen ich mich bisher beschäftigt habe – oder auch musste. Und, ganz im Ernst, die Erfahrung des Motorradfahrens kann dabei hilfreich sein, vorausgesetzt, man ist bereit, sich auf die Hintergründe einzulassen. (Was übrigens den Erfolg des Buches „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ von Robert Pirsig erklärt.

Es erschien mir erst einmal unglaubwürdig, dass wir ein einer „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit leben“ und das Realität alles Mögliche ist, nur nichts Wirkliches. Es ist klar, dass diese Tatsache offensichtlich notwendig ist, damit wir uns in der Welt orientieren können. Doch wie Qingyuan Weixin sollte man erst einmal die Wirklichkeit erkennen, wie sie wirklich ist, da ja das, was wir erleben, nur eigene (!!) Bilder der Wirklichkeit, aber nicht die Wirklichkeit selbst sind.

Mit anderen Worten: Solange wir das nicht merken, leben wir ein weitgehend von anderen Menschen vorgegebenes Bild unserer selbst – und nicht uns selbst. Und wir sehen auch Bilder von Menschen, aber nicht die Menschen selbst. Wir leben nicht wirklich, sondern tatsächlich ein Leben „aus zweiter Hand“. Ein gewaltiges Paradox, denn genau das macht ein Zusammenleben erst möglich. Also gilt es, beides in Einklang miteinander zu bringen. Dazu brauche ich „nur“ die Erkenntnisse des Ch’an oder der Quantenmechanik zu leben. Eines ist sicher: Nicht ich habe die Wirklichkeit im Griff, sondern die Wirklichkeit hat mich im Griff.

Das zu erkennen ist „eigentlich“ nicht schwierig, und doch habe ich, wie wohl sehr viele andere auch, lange damit gehadert. Was auch daran liegt, dass die Sprache des sogenannten Normalen ungeeignet ist, die tatsächliche Wirklichkeitserfahrung zu vermitteln. Technisch geht das, nur in der Kommunikation ist das schwierig. Vor allem aber liegt es wohl daran, dass, löst sich mein Weltbild in Wohlgefallen auf, ich in der Regel nicht mehr weiß, woran ich mich orientieren kann. Eines ist mir klar geworden: Die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, war nie weg, nicht sie ist eine Illusion gewesen – aber meine Vorstellungen darüber. Ich habe es einfach nur nicht wahrgenommen.

Und das wollte ich ändern. Also beschäftigte ich mich mit den mystischen Fragen des Ch’an wie mit den fundamentalen Fragen der Quantenmechanik und gehe dem nicht (mehr) aus dem Weg. Das bedeutet auch, dass ich den Menschen nicht mehr hinter einer Fassade begegne, denn wie will ich dann der Wirklichkeit begegnen können? Natürlich bedeutet dies auch, dass eine Menge verdrängter Konflikte und Probleme mit einem Mal nicht mehr zu verdecken sind, wieder hervortreten und gelöst werden wollen.

Die Gedanken, die Sie hier unter „Worum es geht“ lesen, sind im Grunde identisch mit dem, was Nicolaus Gerdes am Ende in seinem Text „Der Sturz aus der normalen Wirklichkeit und die Suche nach Sinn beschreibt.