Das wahre Selbst ist leer und ohne Form.
Es ist weder das Ich noch das Nicht-Ich.
Es ist jenseits von Dualität und Konzepten.

Nagarjuna

Der zu lösende gordische Knoten heißt für mich „Ich“. Ich hoffe, Sie sind darüber nicht allzu sehr erstaunt. Genau genommen sind wir so „wirklich“ wie jedes andere Phänomen in der Welt auch: Wir sind nicht eigenständig, sondern bedingt.

Jedenfalls ist es problematisch, von einem aus sich selbst heraus existierenden Ich auszugehen, weil es keine klare Definition oder Vorstellung davon gibt und auch nicht geben kann, was dieses Ich ist oder wie es funktioniert. Es gibt keine Theorie und keine Philosophie, die das Konzept des Ichs eindeutig erklären oder definieren könnte. Die aber müsste es geben, wenn ich von einem beständigen „Ich“ ausgehe (was bedauerlicherweise viele tun).

Darüber hinaus gibt es viele verschiedene kulturelle, soziale und individuelle Faktoren, die das Konzept des Ichs beeinflussen und verändern. Das Ich ist also weder statisch noch unveränderlich, sondern tatsächlich ein dynamisches Konstrukt, das sich im Laufe der Zeit und in verschiedenen Kontexten entwickelt und sich auch immer wieder neu erfindet. Das einzig Beharrliche ist oft die menschliche Unflexibilität. Unflexibilität bedeutet Steifheit, mangelnde Anpassungsfähigkeit, ein Bestehen auf der eigenen Meinung und Vorgehensweise – aber es vermittelt auch das Gefühl der Sicherheit, man weiß einfach Bescheid, woran und wie man sich orientieren kann.

Ein weiteres Problem bei der Annahme eines aus sich selbst heraus existierenden Ichs ist, dass es oft mit dem Konzept des freien Willens verbunden ist. Wenn das Ich jedoch nicht klar definiert oder verstanden wird, ist es schwierig zu sagen, ob es tatsächlich einen freien Willen gibt oder ob auch der einfach von äußeren Faktoren beeinflusst wird.

Es gibt ja verschiedene Ansichten darüber, ob es einen freien Willen gibt oder nicht. Einige argumentieren, dass der freie Wille eine Illusion sei und dass alle Handlungen durch vorherige Ursachen und Bedingungen determiniert sind. Andere argumentieren, dass der freie Wille real ist und dass wir in der Lage sind, unsere Handlungen bewusst zu kontrollieren und Entscheidungen zu treffen, die nicht durch äußere Faktoren bestimmt sind. Es gibt auch Ansichten, die eine Art von Kompatibilismus vertreten, bei dem der freie Wille und die Determination miteinander vereinbar sind. Letztendlich bleibt die Frage nach dem freien Willen offen. Ganz im Geheimen denke ich jedoch, dass Sie sich ganz am Ende dieser Texte dazu eindeutig positionieren werden.

Im Ch’an wird ja betont, dass alle Phänomene bedingt und abhängig sind und dass das Konzept eines autonomen Selbst eine Illusion ist. Daher wird argumentiert, dass Entscheidungen nicht von einem freien Willen getroffen werden, sondern von den Bedingungen und Ursachen, die zu diesem Zeitpunkt vorhanden sind. Stattdessen wird darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, das Bewusstsein zu schulen, um eine klare Wahrnehmung der Bedingungen und Ursachen zu entwickeln und so eine bewusste und mitfühlende Handlung zu ermöglichen.

Doch das stimmt ganz offensichtlich nicht. Anton Zeilinger hat insoweit den 14. Dalai Lama in einem Gespräch ordentlich ins Schwitzen gebracht, als er erwähnte, dass in der Physik der objektive (!!) Zufall beobachtet werden konnte. Was den Dalai Lama wiederum veranlasste festzustellen, dass sie, also die Buddhisten, insoweit ihre Lehre „anpassen“ müssten. Aber vielleicht sollte er auch bedenken, dass dies auch in der Physik nur unter extremen Bedingungen der fall ist, nämlich dann, wenn keinerlei Informationen mehr verfügbar sind.

Die Entdeckung des objektiven Zufalls in der Quantenmechanik hat die Vorstellung einer deterministischen Welt in Frage gestellt, in der alle Ereignisse durch vorherige Ursachen und Bedingungen bestimmt sind. Es wird argumentiert, dass der objektive Zufall in der Quantenmechanik den freien Willen bestätigt, da er eine Lücke in der Kausalkette schafft, die es uns ermöglicht, bewusste Entscheidungen zu treffen.

Andere argumentieren jedoch, dass der objektive Zufall in der Quantenmechanik den freien Willen nicht ermöglicht, da er immer noch durch vorherige Ursachen und Bedingungen determiniert sei. Es gibt auch die Idee, dass Bewusstsein und freier Wille sich gegenseitig bedingen. Das heißt, dass Bewusstsein notwendig ist, um freien Willen zu haben, aber freier Wille auch dazu beiträgt, Bewusstsein zu schaffen und zu erweitern.

Letztendlich ist es eine komplexe Frage, die noch nicht vollständig beantwortet ist und weiterhin Gegenstand von Diskussionen und Forschungen bleibt. Ich persönlich fand es bisher viel spannender, von einen freien Willen auszugehen. Was wiederum das Thema Schuld versus Verantwortung betrifft. Im Ch’an heißt es ja, es gibt zwar die Tat, aber keinen Täter. Ein sehr, sehr komplexes Thema. Diese Aussage bedeutet ja, dass es in der Ch’an-Philosophie keine dauerhafte, unveränderliche Identität oder Essenz gibt, die als „Täter“ bezeichnet werden könnte. Stattdessen wird die Welt als ein ständiger Fluss von Ereignissen und Handlungen betrachtet, die ohne eine feste Identität oder einen festen Ursprung auftreten. Die Idee des „Täters“ wird als eine Illusion betrachtet, die aus unserem Bedürfnis nach Kontrolle und Stabilität entsteht. Stattdessen wird betont, dass wir uns auf die Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks konzentrieren sollten, ohne uns an vergangenen Handlungen oder zukünftigen Ergebnissen zu binden.

Auch Jiddu Krishnamurti glaubte nicht an einen freien Willen im traditionellen Sinne. Er argumentierte, dass unser Handeln und Denken von unseren Erfahrungen, Konditionierungen und Umständen bestimmt wird und dass wir daher nicht wirklich frei sind, Entscheidungen zu treffen. Krishnamurti betonte jedoch auch die Bedeutung von Bewusstsein und Selbsterkenntnis, um unsere Konditionierungen zu erkennen und uns von ihnen zu befreien. Das verstehe ich so, dass es keinen direkten, sondern „nur“ einen indirekten freien Willen gibt. Was ich tue, geschieht aus einer Konditionierung heraus. Doch ich kann mich entscheiden, eine oder mehrere dieser Konditionierungen zu ändern, wenn ich sie als unzutreffend erkannt habe.

Das ändert zwar nichts unmittelbar, doch ich kann mein Bewusstsein entsprechend schulen. Durch entsprechende Praktiken wie etwa Meditation und Achtsamkeitsübungen lerne ich, meine Gedanken und Emotionen zu beobachten, meine Wahrnehmungen zu erweitern und bewusster zu werden. Ich merke immer, dass in dem Moment, in dem mir etwas bewusst wird, sich eine andere Haltung in den Vordergrund drängt, die aber erst noch verinnerlicht werden muss. Es erfordert Zeit, Geduld und regelmäßige Praxis, um das Bewusstsein zu schulen und zu entwickeln. Vor allem braucht es konsequentes Verhalten, damit daraus implizites Wissen wird und es nicht bei dem konjunktiven Verhalten bleibt.

Insgesamt ist es also unlogisch, von einem aus sich selbst heraus existierenden Ich auszugehen, da es viele Fragen und Unsicherheiten aufwirft und keine klare Definition oder Theorie darüber existiert.

Wie hieß es in einer Sparkassenwerbung von 1995? Mein Haus, mein Auto, mein Boot? So materialistisch definieren sich noch immer viele Menschen, sie „sind“, was sie besitzen. Ich besitze beispielsweise eine Kawasaki Z 900 RS und ich fahre mit ihr im Rahmen meiner Fähigkeiten, wie man eben mit einer Z 900 RS fahren kann oder fährt.

Sie prägt meinen Fahrstil mit, aber nicht mich. Genauso wie ich mich den Menschen um mich herum anpasse, doch das bedeutet nicht, dass die mich bedingen würden. Wie (nicht was!) ich bin, ist also alleine meine ganz persönliche Angelegenheit.